Die seltsame Berühmtheit des „performative reading“ – und warum mich das Thema nicht loslässt

Erst kürzlich las ich in The New Yorker einen spannenden Artikel über ein Phänomen, das mich seitdem nicht mehr ganz loslässt: performative reading. Habt ihr davon schon einmal gehört? Es ist ein relativ neu aufgekommener Begriff, der schon beim ersten Lesen nach Augenrollen klingt – und gleichzeitig perfekt in unsere Zeit passt.

Es geht um Menschen, die öffentlich lesen. Sichtbar lesen. Vielleicht zu sichtbar lesen. Mit der Folge, dass man ihnen sofort unterstellt, sie würden das alles nicht für sich tun, sondern für die Außenwirkung. Fürs Image. Fürs perfekte Bild im Café. Um zu zeigen, schaut her Leute, ich bin schlau, ich lese ein Buch. Meine böse Unterstellung, wahrscheinlich sind die Seiten leer! Und plötzlich diskutieren alle darüber, ob Lesen jetzt auch zur Show verkommt.

Lesen als Bühne – oder als Rettung der Literatur?

Wir Lesen ab sofort zum Show-Akt? Der Vorwurf liegt auf der Hand: Wer mit dem dicken Klassiker im hippen Café sitzt, tut das nicht aus purem Wissensdurst, sondern wegen der ästhetischen Wirkung. Es gibt zahlreiche Bloggerinnen und Blogger, die das alltäglich zeigen. Es funktioniert, es generiert Reichweite – und es sieht schön aus. Ich wünschte ich könnte mich einmal so inszenieren, aber meistens habe ich einen Fleck auf dem Pulli oder keinen schönen Fingernägel – nichts also mit dem Bild aus dem Café.
Aber dennoch finde ich es gut! Sehr gut sogar! Wenn jemand mit einem Buch in der Öffentlichkeit sitzt, ist das in meinen Augen erstmal etwas Gutes. In einer Welt, in der alles immer schneller, flacher, lauter wird, darf ein Roman, der gerade noch im Wohnzimmer lag, auch mal im Rampenlicht stehen. Selbst wenn es ein kleines, inszeniertes Rampenlicht ist.

Der Druck, ständig authentisch sein zu müssen

Was mich an dieser Debatte allerdings irritiert, ist weniger der Begriff selbst als die Haltung dahinter: diese strenge Erwartung, dass alles, was wir tun, bitteschön „authentisch“ sein soll.
Als würde man sofort durchs Raster fallen, wenn man ein Buch mit schöner Optik mag – oder es mitnimmt, weil es zur Tasche passt.
Dabei ist doch alles irgendwie Performance geworden. Von der Kaffeewahl bis zur Art, wie wir auf Social Media atmen. Warum sollte ausgerechnet das Lesen davon ausgenommen sein?

Wenn Lesen plötzlich ein Wettbewerb wird

Das Tragische an der ganzen Sache: Der Vorwurf „performative reading“ kann genau diejenigen abschrecken, die gerade erst anfangen, Literatur für sich zu entdecken.
Wie oft begegnet man dem Gedanken: „Oh Gott, hoffentlich sieht es nicht so aus, als würde ich nur so tun…“
Aber genau das ist doch der Kern des Problems.
Lesen sollte sich nie wie eine Prüfung anfühlen. Es ist kein Elitesport. Kein Club mit Dresscode. Es ist etwas zutiefst Persönliches. Und es gehört jedem, der ein Buch aufschlägt – egal wie, wo, warum.

Geht der Inhalt verloren? Manchmal. Aber vielleicht ist das nicht das Ende der Welt.

Natürlich gibt es eine berechtigte Sorge: dass Bücher zu Requisiten werden. Dass der Text unter der Oberfläche verschwindet. Aber gleichzeitig glaube ich, dass selbst eine ästhetisch motivierte Begegnung mit einem Buch ein Anfang sein kann.
Manchmal führt gerade der schöne Einband dazu, dass man eine Geschichte liest, die man sonst nie entdeckt hätte. Manchmal bringt ein Foto jemanden dazu, neugierig zu werden. Manchmal bleibt man hängen – und liest dann wirklich.

Am Ende zählt nur eines: Was macht ein Buch mit dir?

Vielleicht sollten wir uns weniger darüber aufregen, warum jemand liest, und mehr darüber freuen, dass gelesen wird. In einer Welt, in der Lesen Pflichtprogramm bei Grundschülern geworden ist, wo Lesehausaufgaben geben werden, und man gezwungen wird zu lesen. Keine Frage, Lesen ist wichtig, dass wissen wir. Aber ist es der richtige Ansatz kleine Kinder dazu zu zwingen? Haben nicht auch unsere Kleinsten ein Recht auf das Entdecken?

Aber für mich bleibt eine einzige wichtige Frage am Ende stehen, und die Antwort fällt für jeden von uns unterschiedlich aus:
Was passiert zwischen dir und dem Text, wenn niemand hinschaut?

Denn genau dort – im Unsichtbaren, im Stillen, im echten Kontakt – beginnt das, was Lesen wirklich bedeutet.

Alles Liebe,
Eure Jasmin